Komplexe Entscheidungen

„Es klären sich die Dinge, während man darüber spricht.“

Entscheidungsfindung

Rund 20.000 Entscheidungen fällen wir jeden Tag, heißt es – einige davon in einem Bruchteil von Sekunden, andere erfordern deutlich mehr Bedenkzeit und haben weitreichende Auswirkungen auf unser Leben. Bei komplexen Entscheidungen können wir die Konsequenzen des eigenen Handelns teilweise nicht überschauen. Wie man diese trotzdem trifft, lernen Studierende an der Universität Bremen. Prof. Dr. Dagmar Borchers leitet den interdisziplinären Studiengang „Komplexes Entscheiden“ und gibt in einem Interview Tipps für die Entscheidungsfindung. Dabei beantwortet sie unter anderem die Fragen, wie man eine geeignete Studien- oder Berufswahl trifft und mit Studienzweifeln umgeht.

Ein Studiengang, der sich „Komplexes Entscheiden“ nennt – das klingt zunächst sehr abstrakt. Was ist denn eine komplexe Entscheidung?

Dazu gibt es verschiedene Definitionen. Der Soziologe Uwe Schimank schreibt in seinem Buch „Die Entscheidungsgesellschaft“, dass die Komplexität sich zum einen aus der Sachebene ergibt. Man hat entweder eine Vielzahl an Informationen oder eine Situation, in der wichtige Informationen fehlen. In der Regel hat man bei komplexen Entscheidungen zum anderen auch einen gewissen Zeitdruck, und schließlich muss man auch die soziale Komponente berücksichtigen: Wer ist beteiligt? Welche Entscheidung hätte diese oder jene Auswirkungen auf die Beteiligten? Welches Konfliktpotential bergen die verschiedenen Handlungsoptionen? Dietrich Dörner, ein Psychologe, der sich intensiv mit komplexen Entscheidungen beschäftigt hat, definiert „Komplexität“ unter anderem durch die Eigenschaft eines Systems, in dem viele Faktoren oder Komponenten miteinander kausal interagieren und in dem man diese Kausalzusammenhänge nur unzureichend durchschauen kann.

Das heißt, wir müssen alle in unserem Leben komplexe Entscheidungen fällen? Etwas überspitzt gefragt: Müssen wir nun alle diesen Studiengang studieren, um im Alltag Orientierung zu haben?

Wir sind eigentlich gut darin, unseren Alltag zu bewältigen und auf der Basis unserer Lebenserfahrung alle gute komplexe Entscheider. Der Studiengang richtet sich vornehmlich an Personen, die eine berufliche Tätigkeit ausüben wollen, in der sie voraussichtlich mit komplexen Entscheidungslagen konfrontiert sein werden und die daran interessiert sind, das Thema systematisch und wissenschaftlich fundiert zu vertiefen.

Die Frage, was sie später beruflich machen möchten, ist eine ganz wesentliche für junge Menschen. Wie trifft man diese Entscheidung?

Es ist ganz wichtig, dass man in sich geht und sich die Frage stellt: Was interessiert mich? Da sollte man sich wirklich kritisch befragen. Wo liegen denn meine Talente und Fähigkeiten und wo liegen meine Schwächen? Bin ich technisch begabt oder sprachbegabt? Bin ich eher ein schüchterner Mensch? Und was ist mir wichtig? Ist es mir egal, wie viel ich verdiene oder spielt das für mich eine große Rolle? Ist einem Sicherheit wichtig, die eigene Freiheit oder geregelte Arbeitszeiten? Möchte man gerne mit Menschen arbeiten? Außerdem ist es wichtig, sich treu zu bleiben, authentisch und ehrlich zu sich selbst zu sein. Und was die Inhalte angeht: Da sollte man sich nicht reinreden lassen. Ich selbst habe mit Anfang zwanzig am Theater angefangen, und das war ein sehr riskanter Weg. Aber ich wollte das unbedingt. Meine These ist: Wenn man etwas unbedingt will, dann soll man das auch machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dann auch funktioniert, ist –  glaube ich –  ziemlich hoch. Man muss nur einen eisernen Willen haben. Ich finde, dass man eigentlich schon in einer ganz guten Startposition ist, wenn man genau weiß, was man will.

Was ist, wenn man schon eine Entscheidung getroffen und einen bestimmten Studiengang gewählt hat, unter dem man sich aber etwas Anderes vorgestellt hat? Was ist, wenn man unzufrieden mit der gefällten Entscheidung ist und nun an der Studienwahl zweifelt?

Ich finde das gar nicht so schlimm. Es ist etwas unangenehm, vielleicht haben die Eltern einen finanziert. Aber die Zeit ist nicht verloren; man hat ja trotzdem viel gelernt. Auf der anderen Seite sollte man diese Entscheidung dann auch zügig treffen. Ich glaube, dass man selbst schon ein ziemlich klares Gefühl dafür hat, ob der Studiengang nun etwas für einen ist oder nicht. Man sollte nicht sofort hinschmeißen, weil es im Leben auch wichtig ist, dass man durchhält, auch wenn etwas nicht viel Spaß macht. Das ist eine Fähigkeit, die im Leben sehr wichtig ist. Aber wenn man sich sicher ist, dass es das nicht ist, dann muss man es eben abbrechen. Das ist alles nicht so schlimm. Man ist jung, das Leben steht einem offen. Und diese Art von Entscheidungen sind ja wirklich revidierbar. Viele Menschen sind jenseits der Universität erst richtig aufgeblüht und haben da ihr Glück gefunden.

Und wenn man sich noch nicht so sicher ist? Wie kann man die Entscheidung fällen, ob man abbrechen soll oder nicht? Schreibt man dann Pro- und Kontralisten, geht man zur Studienberatung oder redet man zunächst mit der Familie?

Das sind alles gute Ideen. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass man viel darüber redet. Es gibt einen schönen Aufsatz von Heinrich von Kleist über „Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.“ Und das stimmt wirklich. Meistens stellt man, während man über etwas redet, fest, was für ein Gefühl man dabei hat. Es klären sich die Dinge, während man darüber spricht. Und deswegen ist das ganz wichtig, sich mit Personen seines Vertrauens auszutauschen.

Haben Sie Tipps, wie man generell Entscheidungen fällt? Eher aus dem Bauch heraus oder eher rational?

Es gibt ja ganz offensichtlich – und das bestätigen ja auch Psychologen wie Gigerenzer oder Kahneman – zwei Arten von Entscheidungen: Die sogenannten „Bauchentscheidungen“ und die rationalen Abwägungsentscheidungen. Eine Bauchentscheidung ist etwas Schnelles mit dem man sich meistens sehr sicher fühlt. Wenn das funktioniert, ist es gut. Und wenn man merkt, dass es nicht funktioniert, dann muss man sich seine Optionen vor Augen führen. Das kann man auch schriftlich tun und tatsächlich mal herunterschreiben, was für und was gegen eine Handlungsalternative spricht. Um Klarheit zu gewinnen, ist es wichtig, den Verstand einzuschalten, einen langen Spaziergang zu machen und über die Dinge nachzudenken. Man kann zunächst aus der Situation rausgehen, vielleicht wegfahren und auch mal alleine sein – das ist auch ganz wichtig: Mit den eigenen Gedanken alleine zu sein.

Das heißt, sich auch mal auf den eigenen Verstand zu verlassen und nicht immer direkt Hilfe von außen zu suchen?

Ja, genau. Ganz dem Sprichwort getreu: Wer viel fragt, kriegt auch viele Antworten. Das widerspricht jetzt vielleicht so ein bisschen dem, was ich eben gesagt habe, aber ich glaube, man braucht beides: Gespräche und das Alleinsein. Entscheiden muss man sowieso immer selbst – das kann einem niemand abnehmen. Und man braucht auch eine Phase, in der man nicht immer von außen durch Informationen beeinflusst wird – sei es das Internet oder das Telefongespräch: Zeit, in der man mal Ruhe hat und einen Ort, an dem es still ist.

Ich habe jetzt rausgehört: Bauchentscheidungen sind nicht generell schlecht? Sie würden nicht davon abraten?

Nein, das wäre die These von Gerd Gigerenzer, der mit seinen Publikationen diesen Begriff bekannt gemacht hat. Seine These ist, dass Bauchentscheidungen immer da sinnvoll sind, wo wir über viel Erfahrung verfügen. Er sagt: Das, was wir Intuition nennen, ist sozusagen ins Unbewusste abgesunkenes Wissen und in den Bereichen, in denen wir das haben – zum Beispiel bei routinierten Handlungen – brauchen wir nicht lange nachzudenken. Gigerenzer ist es sehr wichtig, deutlich zu machen, dass Bauchentscheidungen nicht grundsätzlich irrational sind, sondern –  im Gegenteil – eine gewisse Rationalität besitzen. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass wir Bauchentscheidungen nicht auf einem Terrain treffen sollten, auf dem wir überhaupt keine Erfahrungen oder Kompetenz haben.

Würden Sie sagen, dass es falsche Entscheidungen gibt?

Ja, das kann man nicht in Abrede stellen. Man kann sich sehr verschätzen und dann entstehen Konsequenzen, die wirklich schlimm sind. Aber meistens ist es doch so:  Wenn man eine Lebensentscheidung getroffen hat, die sich als nicht besonders glücklich erweist, und man mit zeitlichem Abstand darüber nachdenkt, stellt man fest: Ich habe dadurch viel gelernt oder ich habe dadurch ganz tolle Menschen kennengelernt. Außerdem: Vor falschen Entscheidungen kann man sich ohnehin nicht schützen. Leben bedeutet, dass man auch mal falsche Entscheidungen trifft und dass man damit leben muss. Es gehört zur persönlichen Entwicklung dazu, dass man es schafft, diese falschen Entscheidungen in sein Leben und sein Selbstverständnis – in seine Biografie – zu integrieren.

Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass es wichtig fürs Entscheiden ist, dass man einen gewissen Leitfaden für sein Leben hat, d. h., die eigenen Werte zu kennen. Und dann fällt das Entscheiden in konkreten Situationen auch leichter. Was sind die Fragen, die man sich stellen muss, um an diesen Leitfaden zu kommen?

Es gut ist, wenn man reflektiert ist und sich selbst auch kritisch sieht. Wenn man über Dinge nachdenkt, die passiert sind und versucht diese auszuwerten. Wie habe ich mich da verhalten? Warum hat mich das aufgeregt? Da kann man schon viel über sich lernen, und dann sollte man sich auch gelegentlich fragen: Wie lebe ich eigentlich? Was sind meine Prioritäten, was ist mir wichtig im Leben? Und vor allen Dingen diese tugendethische Frage: Wie will ich sein? Was für eine Art Mensch möchte ich gerne sein? Oder: Was schätze ich an anderen Menschen? Mit welchen Menschen bin ich gerne zusammen und warum? Und dann kommt man vielleicht auf bestimmte Eigenschaften, die man an anderen sehr schätzt. Das wäre dann ein gewisser Hinweis darauf, dass man sich selbst diese Eigenschaften zu einem gewissen Maß zu eigen machen könnte.

Eine Frage zur Motivation für besonders Entscheidungsängstliche: Wieso sollten wir keine Angst haben, Entscheidungen zu fällen?

Weil leben genau das bedeutet. Der Mensch ist frei und Freiheit heißt: entscheiden müssen. Und diese Freiheit ist etwas Schönes. Sie hat zugenommen, gerade in den letzten 50 bis 100 Jahren. Das haben sich die Generationen vor uns erkämpft, und wir sollten es genießen. Es ist eine Errungenschaft unserer Gesellschaft. Unsere persönliche, unsere individuelle Zukunft ist eine offene und wenn wir nicht entscheiden, ist das auch eine Entscheidung: Wir können nicht nicht entscheiden und deswegen müssen wir dieses Joch auf uns nehmen und sollten froh darüber sein, dass wir es können.

Für alle, die nun Lust haben, sich auch im Studium mit dem Thema Entscheidungsfindung zu beschäftigen: An wen richtet sich der Studiengang „Komplexes Entscheiden“ und was kann man sich konkret darunter vorstellen?

Der englische Titel „Professional Public Decision Making“ verrät ja bereits, dass wir uns hinsichtlich der Berufsperspektiven auf Tätigkeiten im öffentlichen Sektor konzentriert haben, tatsächlich stößt der Studienabschluss jedoch auch in der Wirtschaft auf großes Interesse. Die komplexen Entscheidungsprobleme, mit denen wir in der Gesellschaft zu tun haben, bewegen sich an der Schnittstelle gleich mehrerer Disziplinen; sie beinhalten ethische, politische, rechtliche und ökonomische Aspekte. Deswegen haben wir uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, einen Master mit vier Fächern zu konzipieren. In den Seminaren – die teilweise von zwei Lehrenden unterschiedlicher Fachrichtungen geleitet werden – behandeln wir alle Inhalte, die aus interdisziplinärer Perspektive bearbeitet werden. Hierzu zählen Themen wie Migration, Korruption oder die Ethik des Tötens. Wir versuchen unsere Inhalte stetig zu erweitern und verstehen uns als Schiff, das bei voller Fahrt immer noch umgebaut und verbessert wird.

Zur Person: Prof. Dr. Dagmar Borchers lehrt an der Universität Bremen „Angewandte Philosophie“ und leitet den Masterstudiengang „Komplexes Entscheiden.“ Nach dem Abitur studierte sie zunächst Theaterwissenschaft in München und arbeitete mehrere Jahre als Regie- und Dramaturgieassistentinbevor sie ihr Studium der Philosophie aufnahm. Nach ihrer Promotion an der Universität Bayreuth folgte sie einem Ruf nach Bremen und vertritt dort das Arbeitsgebiet der Angewandten Philosophie. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen entwickelte sie die interdisziplinären Studiengänge „Komplexes Entscheiden“ und „Entscheidungsmanagement“, die sich auf das Thema Entscheidungsfindung fokussieren und damit ein gewisses Alleinstellungsmerkmal aufweisen.

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